Film
Ab 18! - Frei im Kopf
Julika ist eine besondere Erscheinung: Aufgrund der Autoimmunerkrankung Alopecia fielen ihr im Alter von neun Jahren langsam, über einen Zeitraum von mehreren Jahren, alle Haare aus.
- Produktionsland und -jahr:
- Deutschland 2021
- Datum:
- Verfügbar in
- D / CH / A
- Verfügbar bis:
- bis 30.06.2025
- FSK
- FSK 12
- von 20 bis 6 Uhr
Julika ist sich ihres Aussehens immer bewusst. Heute, mit 23 Jahren, will sie sich nicht länger verstecken und zeigt sich, wie sie ist: ohne Perücke, mit kahlem Kopf. Ein Selbstfindungsprozess, der für Julika immer noch nicht ganz abgeschlossen ist.
Julika lebt in Berlin, studiert, macht Musik, trifft sich mit ihren Freund*innen, zieht nachts um die Häuser und taucht in die Berliner Clubszene ein. Das ganz normale Leben einer jungen Erwachsenen also, und so möchte sie nicht immer wieder erklären müssen, dass sie nicht krebskrank ist. Sie möchte auch nicht gesagt bekommen, dass sie schön sei, "obwohl sie keine Haare hat", oder dass sie mutig sei, "so auf die Straße zu gehen". Vor allem aber möchte sie selbst an einen Punkt kommen, wo es ihr tatsächlich völlig egal ist, wie sie aussieht.
Die Filmemacherin Stefanie Brockhaus, Jahrgang 1977, und ihre Protagonistin sind Halbschwestern. So zeichnet sich der Film nicht nur durch persönliche Nähe und Intimität aus, sondern auch durch einen bewusst assoziativen Umgang mit Bild und Ton, der neben Julikas eigener Erzählung das Innenleben einer jungen Frau im Spannungsfeld zwischen Normalität und Besonderheit spiegelt und interpretiert.
Stefanie Brockhaus hat an der London University of the Arts und der Hochschule für Fernsehen und Film München Filmregie studiert. Als Filmemacherin und Produzentin hat sie zahlreiche Dokumentarfilme realisiert, die auf internationalen Filmfestivals ausgezeichnet wurden. Zu ihren Filmen zählen unter anderem "Some Things are Hard to Talk About" (2017), "The Poetess" (2017) und "On the Other Side of Life" (2010).
3sat zeigt den Dokumentarfilm "Frei im Kopf" von Stefanie Brockhaus im Rahmen der Reihe "Ab 18!", in der Regisseur*innen mit außergewöhnlichen filmischen Handschriften Geschichten vom Erwachsenwerden erzählen.
Interview mit Stefanie Brockhaus
Julika und Sie sind Halbschwestern. Wie war es für Sie, über eine Ihnen nahestehende Person einen Film zu drehen? Wie würden Sie den gemeinsamen Drehprozess beschreiben?
Die Inspiration den Film zu machen kam von Julika. Im Rahmen ihres Studiums hatte sie einen Kurzfilm gedreht, in dem es um die Blicke und die Reaktionen geht, die sie wahrnimmt, wenn sie unter Menschen geht. Als ich ihren Film sah, schlug ich Julika vor etwas Längeres zu ihrer Erfahrung zu drehen. Ich habe in der Vergangenheit bereits einen persönlichen Film ("Some Things Are Hard To Talk About") gemacht, in dem es um meine Familie geht. Ich interessiere mich für persönliche Geschichten, die ich gerne auf intime Weise erzähle. Julika und ich hatten das Glück uns in Ägypten zu treffen, wo wir zu zweit und fast alleine drehen konnten. Das gab uns die Freiheit, zu tun was wir wollten. Die Landschaft der Wüste, die leer und still war, bot die Ebene für die Dreharbeiten und hat eine gewisse Intimität geschaffen. Julika war sehr offen und sie hat keine "Angst" vor der Kamera, daher war der Dreh mit ihr einfach. Dazu kam ihre Bereitschaft zu erzählen, ohne dass ich viel fragen oder "bohren" musste. Das hat mir geholfen. Sie war bereit diesen Film zu machen und wollte ihre Erfahrung teilen.
Sie haben mit Filmen wie "The Poetess" (2017) schon an großen, langen Dokumentarproduktionen gearbeitet, die auch international ausgezeichnet wurden. Wie war es für Sie, nun dieses sehr intime, kurze Porträt zu verwirklichen?
Das Format von 30 Minuten gefällt mir. Es erlaubt schneller zu arbeiten und damit schneller zu einem Ergebnis zu kommen. Man kann sich auf eine "kleinere" Geschichte fokussieren, das hilft Geschichten zu erzählen. Bei einer Länge ab 40 Minuten wird die Erzählung sehr viel komplexer und erfordert mehr Recherche, mehr Drama, mehr Wendepunkte. Das bedeutet für mich in der Regel, dass ich sehr viel länger an einem Film arbeite. Die Intimität in einem Film interessiert mich persönlich immer, egal welche Länge der Film hat.
Der Film beginnt in einer äußerst imposanten Kulisse in einer bergigen Wüstenlandschaft. Wie kam diese Reise zustande und war sie immer schon als Bestandteil des Films geplant?
Der Dreh in der Wüste war ein Geschenk, das war nicht geplant. Auf Grund der Covid19-Pandemie verbrachte Julika einige Wochen in Ägypten. Ich stieß zu ihr, da wir mit den Dreharbeiten beginnen wollten. Als ich die Landschaft sah, entschied ich, mit Julika in der Wüste zu drehen. Die Entscheidung war intuitiv und hat sich als symbolische Kulisse für Julikas Erzählung angeboten.
Welche Aspekte aus Julikas Leben waren Ihnen besonders wichtig aufzuzeigen, und inwieweit war die Protagonistin selbst in die Planung des Films eingebunden?
Für mich war es wichtig, Julika in ihren Gedanken und Aussagen zu folgen. Ich wollte erfahren was Julika fühlt, und wie sie die Erfahrung ihre Haare zu verlieren, geprägt hat.
Der Film hat seinen eigenen Lauf genommen und hat sich vom ursprünglichen Exposé frei gemacht. Für mich war es (wieder mal!) gut zu sehen, dass ich auf die Protagonisten und ihre Situation vertrauen kann, ohne etwas vorzugeben oder zu wollen. Stilistisch war es für mich wichtig, dass der Film eine poetische Note bekommt und sich vom nüchternen Bild, das dokumentiert entfernt. Daher die Projektionen der Fotos im Interview, wie auch die Wüste. Ich habe bestimmte kreative und inhaltliche Ideen, die ich hatte, angestoßen. Immerhin geht es im Film um die Frage von Schönheit im unkonventionellen Sinne.
Der Film ist durchzogen von assoziativen Momenten - zum Beispiel, wenn Julika rauchend im Cabrio durch die Straßen Berlins fährt oder ein Projektor Fotos aus ihrer Kindheit und Jugend auf ihren Köper projiziert. Was glauben Sie gewinnt ein dokumentarisches Porträt durch solche ausgewiesen inszenatorischen Elemente?
Die Projektionen auf Julika sollen dazu beitragen imaginär eine Brücke aus dem Jetzt und der Vergangenheit zu bilden. Erinnerungen und Realität vermischen sich, wie so oft, fast traumhaft. Julikas Gedanken, "Wie sähe ich mit Haaren aus?" oder "Wäre ich die gleiche Person, hätte ich nicht meine Haare verloren?", spiegeln sich in diesen Projektionen wieder. Das hat mir an der Idee der Projektionen gefallen. Die Bilder erzählen hier fast mehr als ihre Worte. Zudem ist Julikas Kopf wie eine Leinwand, das hat uns ästhetisch gut gefallen und unterstützt ihr Argument, dass Haarlosigkeit schön ist.
Julika fährt tatsächlich ein Cabrio. Die Szene von wehenden Haaren im Cabrio unter freiem Himmel kennt jeder. Diese Situation gibt es in vielen Filmen zu sehen. Ich fand Julikas Bild einen schönen Kontrast zu unseren Sehgewohnheiten. Zudem etabliert die Szene Julika in Berlin, wo sie lebt.
Wie hat Julika auf den fertigen Film reagiert?
Es war eine intensive Erfahrung für Julika diesen Film zu machen. Sie hat sehr viel von sich preisgegeben, von sich erzählt und mit uns geteilt. Bei diesen Gesprächen kamen auch Zweifel auf und Gedanken, die sie sich lange Zeit nicht getraut hatte auszusprechen. Das machte sie verletzbar, gab ihr aber auch eine neue Sicherheit und Kraft. Der Film gefällt ihr gut und hat sie sehr berührt. Sie mag die Bilder und die Erzählweise. Sie mag auch sich selbst im Film, aber es gibt einige Momente an denen sie zweifelt. Nachdem sie den Film gesehen hat, haben wir darüber gesprochen, dass ein Film eine Momentaufnahme ist, ähnlich wie ein Foto, aber anders gesehen wird.
Interview: Simeon Scholz (2021)