Film

Heimat ist ein Raum aus Zeit

Eine deutsche Familiengeschichte zwischen Berlin und Wien, vom Ersten Weltkrieg bis zur Wiedervereinigung, erzählt als Collage aus Briefen, Tagebüchern, Bild- und Tondokumenten.

Produktionsland und -jahr:
Deutschland , Österreich 2019
Datum:
Verfügbar in
D / CH / A
Verfügbar bis:
bis 30.01.2025

In seinem Dokumentarfilm folgt Thomas Heise (22.08.1955-29.05.2024) den Spuren seiner zerrissenen Familie, die seit dem Ersten Weltkrieg vom Kampf für den Sozialismus geprägt war, und davon, dass der jüdische Wiener Familienzweig im "Dritten Reich" in KZs deportiert und ermordet wurde.

Thomas Heises Eltern engagierten sich nach dem Zweiten Weltkrieg für den Aufbau der DDR, gerieten jedoch als Intellektuelle bald in Konflikt mit der Parteiführung. Sie blieben ihrem Staat aber verbunden. Heise selbst war in seiner künstlerischen Arbeit stark von der Freundschaft zu Heiner Müller geprägt.

In seinem Film reflektiert er Zeitgeschichte in den oft sehr persönlichen Zeugnissen aus dem Familienarchiv. Es geht um Menschen, die einst zufällig zueinanderfanden, dann einander verloren. Und deren verbliebene Kinder und Enkel jetzt verschwinden. Es geht um Sprechen und Schweigen. Erste Liebe und verschwundenes Glück. Väter, Mütter, Söhne, Brüder, Affären, Verletzung und Zukunftshoffnung in wechselnden Landschaften, die verschiedene, einander durchwuchernde Spuren von Zeiten in sich tragen.

"Heimat ist ein Raum aus Zeit" ist ein Nachdenken über die Zeit, die Liebe in ihr, und über den Menschen. Immer bleibt ein Rest, der nicht aufgeht. "Das Material des Films", sagt Thomas Heise, "ist das Übrig-Gebliebene meiner Familie, Reste. Die, von denen ich weiß, deren Umstände ich erlebt oder anders erfahren habe. Reste, die Geschichte spiegeln, Geschichte, die auch meine ist."

Der Film ist seit der Uraufführung auf der Berlinale 2019 auf zahlreichen nationalen und internationalen Festivals gezeigt und mit Preisen ausgezeichnet worden, darunter der Deutsche Dokumentarfilmpreis 2019 und der Preis der deutschen Filmkritik 2020. Er war 2020 außerdem für den Deutschen Filmpreis nominiert.

Im "Tagesspiegel" vom 26. Juni 2019 schrieb Christiane Peitz: "Heise setzt seine Collage aus dem Blickwinkel derer zusammen, die im Stich gelassen werden, denen Geschichte vor allem geschieht. Manchmal ist es ein ganzes Volk. Wobei die Fülle von Sinnbildern nie platter Symbolik gehorcht, verleiht er den verfallenen Gebäuden, dem märkischen Treibsand, dem vom Tagebau geborstenen Asphalt, den kahlen Bäumen, Wolkenschatten und Winterlandschaften doch eine eigentümliche Aura. Immer sind es lange, langsame Kamerafahrten, oft von bestürzender Schönheit. Auch die Lebenslaufentwürfe, Briefstellen und Notizen entfalten Poesie und Esprit."

Thomas Heise begann seine Laufbahn an der DEFA. Erste Dokumentarfilme, die dort entstanden, durften in der DDR nicht gezeigt werden. Nach der Wiedervereinigung sorgte er 1992 mit "Stau - Jetzt geht's los", einem Film über die rechtsradikale Jugendszene in Halle für Aufsehen. Heise drehte Dokumentarfilme und inszenierte mehrere Theaterstücke. Neben seiner künstlerischen Arbeit lehrte Heise an der Akademie für bildende Künste in Wien und war Mitglied der Akademie der Künste in Berlin.

Interview von 2020 mit Thomas Heise anlässlich der Erstausstrahlung von "Heimat ist ein Raum aus Zeit"

Porträtfoto Thomas Heise
Thomas Heise (1955-2024)
Quelle: Inge Zimmermann

Der Film gibt Einblicke in deine Familiengeschichte, die sich über ein Jahrhundert erstreckt. Was hat, nach vielen Filmen, in denen du dich anderen Menschen gewidmet hast, den Ausschlag gegeben, dich deinen eigenen Vorfahren zu widmen und so weit in die Vergangenheit zu gehen? Und waren deine Filme "Vaterland" von 2002 über eine Phase der Geschichte deines Vaters, und "Mein Bruder - We'll Meet Again" von 2005 bereits Vorarbeiten für diesen Film?

Wer übrig bleibt, muss erzählen, das ist glaube ich ganz simpel. Am Anfang waren die Briefe, die ich zufällig fand und nicht mehr hergegeben habe. Und ich bin sehr früh an die Briefe meines Vaters und meines Onkels aus dem Arbeitslager gekommen. Aber ich weiß nicht mehr genau, wann das war, als ich sie das erste Mal sah. Ich war noch ein Kind. Die Briefe waren in einem braunen Karton, der bei meiner Großmutter unter einer Kommode stand. Viele Briefe hatten vergilbte Umschläge auf denen violette Marken klebten. Es war geheimnisvoll. Ich nahm den Karton an mich.

Entziffert habe ich die Briefe erst etliche Jahre später, mühselig die winzige Schrift, Bleistift auf Packpapier. Meist mit der Lupe. Und ich lernte in ihnen meinen Vater und seinen Bruder, meinen Onkel, als junge Männer kennen. Oder überhaupt.

Das meiste, das ich von meinem Vater weiß als Person, auch emotional, weiß ich aus diesen Briefen. Ernsthafte Gespräche, in denen ich auch etwas erfuhr davon, wie es ihm geht zum Beispiel erinnere ich nicht. Da geht es mir ähnlich wie der Frau mit dem Abschiedsbrief, einer Affäre. Sie benennt das sehr genau.

Mitte der achtziger Jahre habe ich mir einmal ein Auto geborgt und habe meinen Vater eingepackt und bin mit ihm zu der russischen Kaserne gefahren, die auf dem Flugplatz der deutschen Luftwaffe war, an dessen Rollbahn er und sein Bruder mitgebaut hatten als jüdische Mischlinge im Winter 44/45, "Gestapoaktion Mitte".

Da stand er dann in der Landschaft und fand nicht, was seine Erinnerung war. Von der er nie erzählt hatte.

"Vaterland" vor zwanzig Jahren war ein erster Versuch, sich dieser Geschichte zu nähern. Eigentlich der ganzen. Ein in den Achtzigern des vorigen Jahrhunderts - nach diesem Ausflug mit meinem Vater - auf VHS begonnener Film, gelangte in Teilen in den, der erst fünfzehn Jahre später tatsächlich auf Film gedreht wird. Fragmente vom Leben hier, gebrochene Biografien, die in diesem winzigen Dorf aufeinandertreffen, und jede erzählt von der Zeit, durch die sie bestimmt ist, und wie die vergeht und Neues heraufkommt.

"Heimat ist ein Raum aus Zeit" ist wieder ein Versuch, Geschichte auf einen Begriff zu bringen. Ein Begriff, der dann der Film ist. Neben den Briefen hatte ich von meiner Großmutter Edith das alte Schulheft meines Großvaters, ein Kommunist, den ich nie kennengelernt hatte, weil er noch vor der DDR an ihr gestorben war. Im Schulheft sein achter häuslicher Aufsatz von 1912 über den Krieg, das "wütend Schrecknis". Der Schulaufsatz eines Vierzehnjährigen, die Liebesbriefe an Edith und dann im Dritten Reich sein verzweifelter, unterwürfiger Bittbrief, sein Versuch sich selbst das Kreuz zu brechen, um nicht aus dem Schuldienst entlassen zu werden ins Berufs- und Schreibverbot - das ist, was ich von ihm habe.

Es ging mir darum, Geschichte sinnlich erfahrbar zu machen, das braucht diesen breiten und langen Fluss. Auf den man sich allerdings einlassen muss, wenn man verstehen, ihm folgen will. Der Zeitraum, der letztlich umfasst wird, ist durch das vorhandene Material, die Fragmente, Bruchstücke, Scherben bestimmt, welche die Zeiten in den Personen spiegeln. Archäologie der realen Existenz. Das ist mit den späteren Briefen oder Fragmenten genauso, denen Udos, der Jugendliebe meiner Mutter, oder auch ihrem Tagebuch, dem Stückchen O-Ton Heise-Müller.

"Mein Bruder" war etwas Anderes. Ich habe eine Situation organisiert, in der wir miteinander sprechen mussten. Das taten wir sonst eher nicht. Er war schwer krank und ich wollte, dass wir einander sehen und dass etwas Gemeinsames bleibt. Wir sprachen über Verrat. Wir waren da, glaube ich, einander sehr nah. Ein kurzer Besuch.

Wie hast du dir das äußerst vielfältige Material des Familienarchivs erschlossen, und nach welchen Kriterien hast du dann die Auswahl für den Film getroffen?

Alles an privater Post aus Kartons und Kasten wurde zunächst einmal unsortiert und unbewertet abgeschrieben und stur chronologisch sortiert. Was mir von Belang erschien, habe ich mir markiert. Das dauerte knapp ein Jahr. Dazu kamen Teile von Tagebüchern und Texte aus Notizbüchern und Kalendern, die ich parallel gelesen habe, und mir interessante Teile habe ich ebenfalls transkribiert. Das Ganze ergab knapp vierzig Aktenordner.

Es gab ein paar Regeln, die ich mir überlegt hatte, zum Beispiel "keinen Kommentar". Auch, die Frühgeschichte der mütterlichen Linie wegzulassen und diese mit Rosemarie, mit ihrem jugendlichem Tagebuch einzuführen, dem späteren zweiten Kapitel des Films. Der Geschichte einer ersten großen Liebe, Rosemarie im Osten und Udo im Westen. Das war im Grunde linear zu erzählen und damit haben wir den Schnitt des Films begonnen, mit den lachenden Mädchen im Schnee zum Jahreswechsel 1944/45. Liebesgeschichten und plötzlich, eine große Liebe kommt und geht; und dazwischen gibt es auch Affären und entlang dem Älterwerden ein Immermehr an Geschichte, welche die Geschicke der Figuren mehr oder weniger bestimmt, Politik. Selten Momente des Glücks. Es war wichtig, das Leichte und oft Komische vor dem ersten Kapitel zu arbeiten, um nicht - wenn wir chronologisch vorgegangen wären - gelähmt zu sein vom Holocaust, der historisch und im Film ja davor liegt.

Es gab noch die Regel "keine Musik, außer Marika Röck", dieses Lied aus einer Durchhaltekomödie der UFA "Die Frau meiner Träume" mit diesem unglaublich deutschen Text, auch ein Dokument, ein Film, den mein Vater im Lager sehen musste. "Mach dir nichts daraus."

Es gab auch Sachen, die mir auffielen bei der Durchsicht des Materials, zum Beispiel, dass es Entwürfe für Lebensläufe gab. Das hat mich beschäftigt, so etwas fand ich wichtig. In Diktaturen ist immer jedes Detail wichtig. Heute verlangt, kann es dir morgen den Hals brechen. Man muss sehr genau überlegen, was und wie man etwas sagt. Es geht schnell ums Leben. Vielleicht sollte man es nicht sagen, aber dieser Film entstand obsessiv, anfangs über einen ziemlich langen Zeitraum. Und dann wirklich schnell. Ich musste ihn jetzt machen oder hätte es nie getan. Aber er ist nichts Endgültiges, er lässt Raum.

Beeindruckend an dem Film ist unter anderem, dass jedes Kapitel eine eigene filmische Form hat. Entstanden sie schon bei der Beschäftigung mit dem Quellenmaterial oder erst in der Montage?

Es ist eine bei der Montage entstandene Form, es gab keinen Plan es so zu tun.

Es gab mehrere Stadien der Arbeit, eine davon war zum Beispiel, bei dem Film "24h Berlin - Ein Tag im Leben" mitgemacht zu haben, also etliche Jahre früher, aber dort Bilder für meinen Film von 2019 zu drehen, von dem ich damals nur eine ganz vage Vorstellung hatte. Bei dem "24h Berlin"-Film, bei dem ich auch engagiert war, habe ich mir den Bahnhof Ostkreuz ergattert, der wichtigste Umsteigebahnhof von Berlin. Ein Bahnhof, den ich für meinen eigenen Film brauchte.  Das wussten die Kameraleute Peter Badel und Börres Weiffenbach. Ich habe daran geglaubt, ohne tatsächlich zu wissen, was ich damit machen werde.

Manche der Orte im Film sind kenntlich gemacht, bei anderen ist die Situierung nicht eindeutig, gerade da, wo sie nicht in Verbindung zum gelesenen Quellenmaterial stehen. Wie hast du deine Bildmotive ausgewählt, da es nicht um Illustrierung geht?

Da fällt mir ein, etwas habe ich sehr früh ganz klar gewusst. Den Text von Heiner Müller "Die Küste der Barbaren". Den hatte ich immer zusammen mit der langen Querfahrt in die Dämmerung gesehen, die in Argentinien gedreht ist. Ein Rest aus meinem Film "Sonnensystem", der auch auf 3sat zu sehen war vor einigen Jahren. Das Bild bezieht sich auf den "Mann im Fahrstuhl" einem Monolog aus Müllers Stück "Der Auftrag", dessen Uraufführung Müller an der Volksbühne 1979 realisiert hatte und währenddessen ich dort ein spannendes Theaterpraktikum hatte. Ein Stück um eine gescheiterte Revolution nach Anna Seghers.

Es spielte eine große Rolle, beim Dreh im Februar 2018, dass wir praktisch keine, speziell für bestimmte Textpassagen bestimmte Bilder gesucht und gedreht haben, bestenfalls Ungefähres. Mit einer Ausnahme. Das Drehen selbst war unglaublich frei und assoziativ. Nach einem Jahr Transkript dieser Textmassen und jetzt mit allem gleichzeitig als großem wirren Haufen im Kopf.

Im Schnitt entdeckten wir dann Beziehungen zwischen den Bildern und den Texten. Dabei half, dass wir so unglaublich frei und assoziativ gedreht hatten.

Die Ausnahme war Dresden. Ich hatte ursprünglich gedacht, es könnte möglich sein, den Tagebucheintrag zum 13. Februar 1945 direkt nachzuvollziehen, Straße für Straße. Wir haben uns das alles angesehen und es war lächerlich, so wie "history". Dann habe ich dieses Fernheizungsrohr entlang der Straße gefunden. Das war das Gegenteil. Hohe Konzentration der präzisen Beschreibung, ein sehr sachlicher Ton des Vortrags dieser emotional berührenden Schilderung entlang eines Fernheizungsrohrs durch eine verkommene Landschaft.

In welcher Phase der Arbeit fiel die Entscheidung zwischen Farbe oder Schwarz-Weiß und wovon hing sie ab?

Das stand von Anfang an für mich fest, die Dokumente farbig, die Landschaften Schwarz-Weiß. Jede Antwort darauf, auf die man wiederum mit Aha antworten kann, ist falsch. Ich verstehe ehrlich gesagt die Frage nicht ganz. Das braucht keine Begründung. Es hing von nichts ab und ist so. Wenn ich das infrage stelle, stelle ich den Film infrage.

Gibt es Material in deinem Familienarchiv, das nicht Eingang in den Film gefunden hat, dass du aber gerne noch verarbeiten möchtest?

Verarbeiten ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Es gibt natürlich mehr Personen jenseits des familiären Kreises mit interessanter Post, um das mal flapsig zu sagen. Und auch innerfamiliär sind zum Bespiel die Geschwister meiner Eltern nicht erwähnt. Das ist einerseits schade, weil es noch einmal ganz andere Linien und Konflikte aufzeigen könnte, andererseits war die Konzentration notwendig um das Ganze überhaupt erzählen zu können. Ich muss jetzt erst einmal etwas ganz Anderes machen und dann werde ich mich wieder darum kümmern.

Interview: Udo Bremer, 3sat

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