Film

Nachlass

Das familiäre Erbe von Schuld, Scham und Schmerz wirkt in den Kindern und Enkeln der deutschen Kriegsgeneration weiter. Ihre Aufgabe ist es, das Schweigen der Väter zu brechen.

Produktionsland und -jahr:
Deutschland 2017
Datum:
Verfügbar in
D / CH / A
Verfügbar bis:
bis 30.06.2025

In Gesprächen mit sieben Nachkommen von NS-Tätern und -Opfern geht der Dokumentarfilm von Christoph Hübner und Gabriele Voss ihren Bewältigungsversuchen der unfasslichen Verbrechen nach, getrieben von dem Wunsch, sich von der Last verdrängter Schuld zu befreien.

Wie geht man damit um, wenn man erfährt, dass der eigene Vater an Kriegsverbrechen wie der Erschießung Hunderter Menschen beteiligt war? "Nachlass - lass nach", schreibt einer der Protagonisten, Sohn eines von Hitler mehrfach ausgezeichneten Kampffliegers, auf ein Gemälde. Er erzählt, wie er damit versucht, die Schwere von dessen Erbe künstlerisch zu verarbeiten.

Dann ist da der Chemiker, dessen Vater Polizeiführer bei den Einsatzgruppen war, verantwortlich für die Ermordung Tausender Menschen. Da ist die ehemalige Gymnasiallehrerin, deren Vater SS-Arzt war. Immer noch hofft sie, dass ihr Vater nicht selbst geschossen hat. Da ist die Psychologin, deren Vater ein ranghoher SS-Mann war. Sie heilt die Traumata anderer und versucht, auch ihres zu ergründen. Und da ist ihr jüdischer Kollege, dessen Großeltern in Ungarn ermordet wurden. Beide sind Mitglied einer Dialoggruppe von Kindern aus Täter- und Opferfamilien. Sie sprechen über Wut, Scham und Vergebung.

Und da ist der Sohn der Psychotherapeutin und Enkel des Nazi-Großvaters. Er nähert sich als junger Filmemacher - schon mit einer gewissen Distanz - der Nazigeschichte in der Familie. Und nicht zuletzt ist da die junge israelische Historikerin, die zum Studieren nach Deutschland gegangen ist und sich für die Motive der Täter interessiert. Sie macht Führungen in der Gedenkstätte "Topografie der Terrors" in Berlin. Als sie zusammen mit einem Auschwitz-Überlebenden das Lager besuchte, war es ihr unmöglich, professionelle Distanz als Historikerin zu wahren: Durch ihn wurden die Leiden, die er an diesem - heute zum Museum gewordenen - Ort erlebte, real, und sie verstummte.

Wechselvolle Bewältigungsversuche

Christoph Hübner und Gabriele Voss montieren die Gespräche so, dass die Zuschauer sich mit den Protagonisten zunächst der Entdeckung des "Nachlasses" ihrer Väter annähern, über das in den Familien geschwiegen wurde. Sodann werden ihre zum Teil wechselvollen Bewältigungsversuche nachvollzogen, durch die sie ihre eigenen Kinder entlasten und eine Haltung für die Zukunft gewinnen wollen. Zwischen die Gespräche werden unkommentiert Beobachtungen von Orten gesetzt, die Ausdruck der deutschen Erinnerungskultur sind oder auf die noch lange nicht abgeschlossene Arbeit der Aufklärung von Kriegsverbrechen verweisen.

Christoph Hübner, Jahrgang 1948, ist Autor, Regisseur und Produzent. Für seine Filme erhielt er zahlreiche Auszeichnungen. Im Kino waren zuletzt zu sehen "Vincent van Gogh - Der Weg nach Courrières", das Langzeitprojekt über junge Fußballer "Die Champions" und "HalbZeit", die Filmbiografie "Thomas Harlan - Wandersplitter" und der Musikfilm "Transmitting". Für WDR und ZDF/3sat entwickelte er unter anderem die 16-teilige Reihe "Dokumentarisch Arbeiten". Christoph Hübner ist Mitglied der Deutschen und der Europäischen Filmakademie.

Gabriele Voss ist Autorin und Editorin, arbeitet überwiegend gemeinsam mit Christoph Hübner, mit dem sie zahlreiche Filme realisierte und Auszeichnungen erhielt. Ihre Schwerpunkte liegen in den Bereichen Dramaturgie und Montage. Neben der Filmarbeit veröffentlichte sie mehrere Bücher, darunter "Die Kunst, die Welt zu zeigen", "Der zweite Blick", "Dokumentarisch arbeiten", "Ins Offene", "Schnitte in Raum und Zeit", "Film/Arbeit" (mit Christoph Hübner).

Interview mit Christoph Hübner und Gabriele Voss

Bildmontage: Gabriele Voss sitzt in einem Schneideraum und blickt in Richtung Betrachter, Christoph Hübner ist im Freien unterwegs und trägt eine Filmkamera auf seiner Schulter.
Gabriele Voss und Christoph Hübner

Ihr habt euch lange mit dem Thema der Nachwirkungen von Krieg und Holocaust auf die deutsche Gesellschaft beschäftigt. In eurem Film konzentriert ihr euch auf die Generation der Kinder und Enkel. Wie kam es zu dieser Fokussierung?

Christoph Hübner:
Ausgangspunkt des Projektes waren diffuse Schuld- und Schamgefühle bei uns selbst, in unserer Generation, in der Generation der Nachkriegskinder für das, was im NS geschehen war. Nicht nur wir hatten das Gefühl, dass es zwar viel Wissen über die monströsen Taten und ihre Opfer gab, aber sehr wenig Wissen über das, was in den eigenen Familien geschehen war. Unsere Eltern und Großeltern lebten doch im NS und alle waren auf die eine oder andere Weise in den Krieg involviert. Aber wenn wir fragten, was und wie, dann wurde das oft sehr diffus und ungenau. Oft fragte man auch gar nicht oder zu vorsichtig oder gleich zu inquisitorisch.

Auf diesem Hintergrund wollten wir uns mit der Erinnerungsarbeit in Deutschland beschäftigen. Am Anfang stand die Idee einer Art "Topografie der Erinnerung", in der die unterschiedlichsten Aktivitäten in diesem Land betrachtet werden sollten. Das wäre eine Art Sammeln geworden, mit dem wir auch bei den Recherchen begonnen haben. Sehr bald zeigte sich aber, dass dieses Sammeln schwer zu begrenzen sein würde und dass es eben diesen weißen Fleck bezüglich der deutschen Familiengeschichten gab. Je mehr Menschen wir kennenlernten, die sich explizit mit der eigenen Familiengeschichte und der transgenerationellen Weitergabe in den Familien beschäftigten, desto mehr schien uns eine Fokussierung auf diese persönlichen Geschichten der Nachkommen, diesen eher blinden Fleck wichtig.

Zu dem Thema der transgenerationellen Übertragung ist viel geforscht und geschrieben worden. Wieso habt ihr euch entschlossen, nur mit "Betroffenen" zu arbeiten und Experten nicht einzubeziehen?

Gabriele Voss: Die Motive beim Drehen blieben zunächst breiter angelegt. So haben wir an Erinnerungsorten und auch mit Experten, mit Historikern, Kuratoren, Juristen, Therapeuten und anderen gedreht, die auch Wichtiges und Klärendes zum Thema beizutragen hatten. In der Montage stellten wir dann aber fest, dass die sehr unterschiedlichen Perspektiven der "Betroffenen" und der "Experten" nicht wirklich zusammengehen. Die "Experten" sprachen, auch wenn sie mit ihren Familien vielleicht auch "Betroffene" sind, weitgehend über "die Anderen", über ihr Wissen und ihre Analysen. Während die sogenannten Betroffenen von sich selber sprachen, von der eigenen Familie und dem, was in ihrer Familie geschehen war und was das für sie selbst bedeutete. Als wir die Äußerungen der "Experten" und der "Betroffenen" in der Montage zusammenstellten, erschienen uns die persönlichen Erzählungen plötzlich wie reduziert auf Belege zu Expertenmeinungen. Das wollten wir auf keinen Fall, und so fielen die Passagen mit den Experten im Laufe der Montage aus dem Film heraus. Einige davon haben wir aber im Nachhinein als "Nachlass/Passagen" zu eigenen kleinen Filmen zusammengestellt. Sie werden auf der DVD zu sehen sein.

Die israelische Historikerin Adi Kantor, die in Berlin arbeitete, ist eine wichtige Protagonistin in dem Film. Gab es die Überlegung, den Fokus über Deutschland hinaus zu erweitern?

Christoph Hübner: Adi Kantor lernten wir bei einer ihrer Führungen in der Topographie des Terrors kennen, die uns beeindruckte, weil sie etwas anders war als andere Führungen. Adi Kantor stellte Fragen, die die Zuhörer auf eine persönliche Weise einbezogen. Wir wussten zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass Adi Kantor aus Israel kam. Um so erstaunter waren wir, als sie uns erzählte, dass sie nach Deutschland gekommen war, um sich mit der Seite der Täter zu beschäftigen. "Wer ist der Mann hinter dem Gewehr?" Das war ihr Ausgangspunkt. Darüber, sagte sie, habe sie in Israel kaum etwas gehört. Und mit dem "Mann hinter dem Gewehr" meinte sie nicht die Zahlen und großen Namen, die man kennt. Sie meinte die Männer in den Polizeibataillonen, in den Staffeln der Waffen-SS et cetera, die auf Fotos aussahen wie ganz normale Männer, wenn sie Feste feierten und Ausflüge machten - Väter und Söhne, die gleichzeitig Familien hatten irgendwo in Deutschland und ihnen nette Postkarten schrieben von ihren Einsatzorten. Die Frage nach diesen Figuren, nach ihrer Rolle in den Todeskommandos und in ihren Familien war der Ausgangspunkt unseres Dialogs. Dass wir Adi Kantor begegneten, ist, so könnte man sagen, ein Geschenk des Zufalls. Dass es im Film zu einer Art Dialog zwischen Kindern und Enkeln der Täter- und Opferseite kommt, hat sich am Ende aber auch durch diejenigen ergeben, die an einem solchen Dialog schon seit vielen Jahren arbeiten und bereit waren, ihre persönliche Geschichte im Film zu erzählen.

Gabriele Voss: Unabhängig davon haben wir aber immer auch gedacht, dass die Frage nach der Weitergabe von Traumata über die Generationen hinweg nicht nur ein deutsches Thema ist, obwohl der Holocaust eng mit Deutschland verbunden und als solcher einzigartig ist. Dass das Thema aber darüber hinaus von Interesse ist, zeigt inzwischen auch die Resonanz auf den Film über Deutschlands Grenzen hinaus. Auf dem internationalen History-Filmfestival in Rijeka/Kroatien erhielt der Film den Großen Preis mit der Begründung: "Dieser Film setzt sich vorurteilsfrei mit der Vergangenheit auseinander und trägt in bester Weise zu diesem relevanten Thema unserer Zeit bei, mit dem wir uns als Europäer voll und ganz verbinden können."

Zwischen die Gespräche mit euren Protagonisten habt ihr Beobachtungen von Orten und Belegen deutscher Erinnerungskultur eingefügt, auf die aber nicht durch Interviews oder Zusatzinformationen genauer eingegangen wird. Wie kam es zu dieser "indirekten" Erzählweise?

Gabriele Voss: Der Film beginnt mit einem Zitat von H.G. Adler aus seinem Roman "Panorama". Dort heißt es: "Vergangenheit ist nur im Menschen, in der Außenwelt ist sie nicht herstellbar." Dieser Satz traf auf ein Gefühl, das sich im Laufe der Recherchen immer weiter verstärkte. Wir und auch viele andere Menschen besuchen diese Orte der Erinnerung, Gedenkstätten, Archive, wir alle sehen die Stolpersteine in unseren Städten. Auf der einen Seite gibt es also die Geschichte in uns, die nicht sichtbar ist und erst erzählt werden muss, um erfahrbar zu werden. Das tun die Protagonisten des Films. Auf der anderen Seite gibt es die Geschichte in Orten, Objekten und Dokumenten, die hinterlassen wurden. Und es gibt das Erinnern als Arbeit, als ständiges Bemühen, eine Form zu finden, wie man bei der Neugestaltung der Dauerausstellung in der Gedenkstätte Buchenwald sieht. Die handwerkliche Herstellung die Stolpersteine zeugt auch davon ebenso wie das Sortieren und Auswerten der zahllosen Täterakten in Ludwigsburg.

In der Montage blieb das Gefühl, dass im Umgang mit diesen Orten, Objekten et cetera etwas stumm bleibt, unausgesprochen, nicht nahbar und unfassbar in seiner Dimension. Wir wollten dieses Gefühl nicht durch Kommentare oder Zusatzinformationen zudecken und haben den Erzählungen der Protagonisten die unkommentierte Beobachtung an die Seite gestellt. In einer frühen Notiz zum Film habe ich festgehalten: "Die Ferne der hinterlassenen Dinge sollte ebenso erfahrbar sein wie die verdrängte, aber dennoch lebendige Geschichte in uns." Am Ende besteht der Film aus diesen verschiedenen Ebenen. Und er setzt sie in einen Dialog. Der Film ist auf Festivals gezeigt worden und lief in Deutschland im Kino.

Welche Reaktionen habt ihr bekommen? War die Bereitschaft da, sich auf diese Art der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einzulassen?

Christoph Hübner: Nach den Vorführungen zeigten sich viele Menschen tief bewegt, aber auch engagiert. Viele sprachen auch direkt von eigenen Erfahrungen. Entweder berichteten sie von vergleichbaren Geschichten oder von ebensolchen Schwierigkeiten, Licht ins Dunkel der eigenen Familiengeschichte zu bringen. Der Film ermutige sie, bei ihren Nachforschungen nachdrücklich zu sein, denn er mache erfahrbar, wie schwer und doch zugleich lohnend es sei, sich mit der Rolle der eigenen Familie, der Väter und Großväter im NS zu konfrontieren. In Bremen zum Beispiel gründete sich spontan nach der Filmvorführung eine Dialoggruppe aus Täter- und Opfernachkommen. Viele bewunderten auch den Mut der Protagonisten, so offen mit der eigenen Geschichte in der Öffentlichkeit umzugehen.

Bezogen auf die filmische Form war man dankbar für die Ruhe und die Zeit, die der Film den Hauptfiguren lässt, um ihre Geschichte zu erzählen. Auch dafür, dass die Erzählungen nicht mit Archivmaterial illustriert werden wie sonst so häufig. Die beobachtenden Szenen wurden als Zäsuren gesehen, in die eigene Gedanken während des Films hineinlaufen können oder zusätzliche Assoziationen entstehen. Eine Schülerin meinte, wenn sie in der Schule auf diese Weise vom NS etwas erfahren hätte, vor allem von den persönlichen Hintergründen in den Familien, hätte sie sich wohl nicht so übersättigt gefühlt von dem ewigen Thema NS. Sie habe durch den Film gespürt, wie sehr eigentlich jeder eine persönliche Verbindung zu diesem Thema habe, ob er das weiß und zulässt oder auch nicht.

Interview: Udo Bremer (anlässlich der Erstausstrahlung 2019)

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