Nahaufnahme von drei Köpfen, die ihre Münder zum Schrei geöffnet haben.

Film

Queer gewinnt - Eine Sport-Utopie

Ein Kollektiv queerer Athlet*innen entert die Olympiastadien von Athen und Berlin und ehrt dort jene, für die das Siegerpodest nie vorgesehen war.

Produktionsland und -jahr:
Deutschland 2023
Datum:
Sendetermin
22.07.2024
22:25 - 23:40 Uhr
FSK
FSK 12
von 20 bis 6 Uhr
Sechs Personen im Sitzkreis auf einer Tartanbahn.
Die Athlet*innen eines queer-feministischen Kollektivs beim Erfahrungsaustausch.

Gemeinsam erschaffen sie eine radikale Utopie jenseits starrer Geschlechternormen im Leistungssport. Denn: "Das Wichtigste an den Olympischen Spielen ist nicht das Siegen, sondern das Dabeisein" (Pierre de Coubertin).

So sollte Leistungssport ja auch Grenzen überwinden – nur wohl nicht die zwischen den Geschlechtern. Erst wurden Frauen gar nicht zu den Olympischen Spielen zugelassen, dann wurden sie belächelt, und auch heute noch werden sie auf versteckte Weise diskriminiert. Noch heikler ist die Situation für homosexuelle Menschen und solche, die nicht in das binäre Schema von männlich/weiblich passen.

Mit diesem Status quo möchte sich die Filmemacherin Julia Fuhr Mann nicht abfinden. Sie rollt in ihrem hybriden Essayfilm nicht nur die Geschichte non-binärer Leistungssportler*innen auf, sondern schreibt die Historie des Laufsports humorvoll und verspielt um.

Frau auf Sportplatz beim Dehnen der Beinmuskulatur. Im Hintergrund Berge.
Läuferin Amanda Reiter beim Training im heimischen Lenggries.

Dabei trifft sie unter anderen auch auf Amanda Reiter, eine Transfrau und Marathonläuferin, der man den Sieg bei den bayerischen Meisterschaften durch einen Trick aberkennen wollte. Und auf Annet Negesa, eine 800-Meter-Läuferin aus Uganda, die von den internationalen Sportverbänden zu einer hormonverändernden Operation gedrängt wurde - mit weitreichenden körperlichen und mentalen Folgen.

"Kino-Zeit" schreibt in ihrer Filmkritik zum Kinostart des Films: "Es werden noch weitere genderpolitische Themen angesprochen in diesem komplexen und zugleich eingängigen Filmdebüt, das vor allem durch seine kraftvolle und experimentierfreudige Bildsprache besticht. Immer neue visuelle Mittel werden aufgeboten, mit dem Ziel, keine Opfergeschichte zu erzählen, sondern queere Sportler als Akteure zu feiern, die ihr Schicksal in die Hand nehmen. Sie schreiben nicht nur die Vergangenheit um, sondern imaginieren eine Zukunft, in der alle Identitäten und alle Arten von Körperlichkeit sich das Recht auf ihr jeweiliges So-Sein nehmen. Im Fokus steht dabei eine Welt, die nicht auf Ausgrenzung und Konkurrenz beruht, sondern auf einer kollektiven Freude am gemeinsamen Sporttreiben."

Seine internationale Premiere feierte "Queer gewinnt - Eine Sport-Utopie" unter seinem Originaltitel "Life Is Not a Competition, But I'm Winning" bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig 2023. Bei den "First Steps Awards" wurde die Kamerafrau Caroline Spreitzenbarth mit dem Michael-Ballhaus-Preis für die beste Bildgestaltung ausgezeichnet.

Julia Fuhr Mann, geboren 1987, lebt in München. Sie ist Filmemacherin, Kuratorin und queer-feministische Aktivistin. Nach einem Studium der Philosophie, Literatur und Soziologie studierte sie Filmregie an der Hochschule für Fernsehen und Film München und ist außerdem in der Videoredaktion der "Süddeutschen Zeitung" tätig. Ihr Kurzfilm "Riot not Diet" (2018) wurde auf zahlreichen internationalen Festivals gezeigt. Mit "Life Is Not a Competition, But I'm Winning" hat sie ihr Regie-Studium an der HFF München abgeschlossen.

Interview mit Regisseurin Julia Fuhr Mann

Wie entstand die Idee, einen Dokumentarfilm zu diesem Thema zu machen?

Nahaufnahme einer lächelnden jungen Frau mit kurzen Haaren, die vor einem Garagentor sitzt.
Julia Fuhr Mann
Quelle: ZDF/Stella Deborah Traub

Ich liebe es, Sport im Fernsehen anzugucken und begeistere mich für sehr viele Sportarten - Fußball, Leichtathletik, alles bei den Olympischen Spielen natürlich. Ich mag daran, dass im Leistungssport Körper immer wieder Grenzen überschreiten, dass es um Frauen mit Kraft und Muskeln geht und alles so voller Pathos inszeniert wird. Gleichzeitig finde ich aber die ganzen Strukturen, die hinter dem Leistungssport stehen, absolut fragwürdig: die Kapitalisierung von Sport, das Nationalistische daran und vor allem diese enge Zwei-Geschlechtervorstellung, an der man im Sport so beharrlich festhält. Ich will mich nicht damit abfinden, dass diese Geschlechterkategorien den Sport so sehr prägen, weil sie einfach wenig Sinn machen. Die beiden Gruppen "Mann" und "Frau" sind in sich jeweils so heterogen, dass es viel spannendere Optionen gäbe, Kategorien für den Sport zu bilden. Basierend auf dieser Ambivalenz blicken wir in unserem Film aus einer queeren Perspektive auf Körper im Leistungssport. So wie all meine filmischen Arbeiten kreist auch dieser Film um den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Strukturen und den Körpern der Menschen. Ebenso wichtig wie der Inhalt des Films war uns dabei das Erkunden einer widerständigen Filmsprache, die mit den dominanten Narrativen des etablierten Kinos bricht.

Warum die Entscheidung für eine hybride Form?

Ich habe Dokumentarfilmregie studiert und dabei immer wieder festgestellt: Die dokumentarische Filmform hat eine Vorliebe dafür, Protagonist*innen beim Leiden zu zeigen. Trotz der guten Absichten neigen solche Erzählungen dazu, gewaltvolle Erfahrungen zu instrumentalisieren, da diese oft als dramaturgisches Zentrum eines Films verwendet werden. Konflikte treiben die Geschichte voran, heißt es. Wenn man sich in der filmischen Erzählung aber auf die Schilderung von Unrecht beschränkt, gibt man oft ausschließlich den Kräften Raum, die ebenjene schmerzvollen Lebensumstände verursacht haben. In unserem Film benutzen wir Leidensgeschichten nicht als dramaturgischen, spannungsvollen Leitfaden der Narration. Stattdessen weben sich in unserem Film utopische Momente eines kollektiven Miteinanders langsam in das Leben der Protagonist*innen sowie in die visuelle Komposition unserer Bilder ein. Leid und Schmerz gehen über in eine Vision von queerer Gemeinschaft, die ein kraftvolles Gegengewicht zur verübten Gewalt darstellt. Um diesen Aspekt erzählen zu können, entfernt sich der Film immer wieder vom dokumentarischen Blick und löst die Grenzen zwischen historischem Archivmaterial, dokumentarischer Gegenwart und queerer Zukunftsvision auf. Solche Momente zu erzählen ist nicht einfach, da sie im Gegensatz zur brutalen Realität nicht einfach vor uns liegen - aber für diesen Prozess hatten wir ein tolles, kreatives Team! Caroline Spreitzenbart, unsere Kamerafrau, hat in ihrer Bildsprache eine ganz eigene Welt für diese Ebene des Films entworfen und Cornelia Böhm, unsere Sounddesignerin, hat die komplexe Tonebene für diese Welt entwickelt.

Wie entstand die Idee, neues Bildmaterial in altes zu integrieren? Welche Bedeutung hat dieser visuelle Eingriff für den Film?

Das queere Kollektiv in unserem Film bewegt sich über die ganze Dauer des Films zwischen verschiedenen Zeit- und Aggregatzuständen. Die Mitglieder der Gruppe werden immer wieder in altes Archivmaterial hineinmontiert und schweben wie Zeitreisende durch die verschiedenen Zeitebenen des Films. Auf eine sehr konkrete und physische Weise nehmen sie somit die Vergangenheit in ihre eigene physische Existenz auf. Somit steht die Gruppe für ein Erinnern und Neubetrachten von lange vergessenen Körpern, aber auch für ein kollektives Miteinander, das dabei hilft, die gewaltvollen Strukturen unserer gegenwärtigen Gesellschaft besser zu bewältigen. Die Vergangenheit als etwas Abgeschlossenes, Objektives zu betrachten ist ein sehr konservativer Akt, der wenig Ambivalenz und Wandlung zulässt, denn: Die Vergangenheit verändert sich je nachdem, von wem und unter welchem Blickwinkel sie betrachtet wird. Damit wirkt sie in unsere Gegenwart hinein, welche dann wiederum die Geschichtsschreibung beeinflusst und in Zukunftsvisionen hineinstrahlt. Nur so können die Engstellen der Gegenwart langsam geweitet werden.

Wie sind Sie die Recherche nach den verborgenen und vergessenen Geschichten des Films angegangen?

Die Archivrecherchen waren ein langer und aufwendiger Prozess - dafür war unsere Producerin Melissa Byrne hauptverantwortlich, die fast zwei Jahre lang in vielen, vielen Archiven recherchiert hat und die oft sehr schwer zu bekommenden Rechte verhandelt hat. Ein weiteres Problem dabei war, dass wir von vielen Geschichten fast vergessener Sportler*innen gelesen hatten, dann auch Archive gefunden haben, in denen es laut Recherche Material zu diesen Geschichten geben sollte, dieses Material aber oft gar nicht oder nur in sehr begrenzt verwendbarer Qualität digitalisiert war. Somit mussten wir diesen Prozess erst anstoßen und finanzieren. Es ist ja leider oft so, dass die historischen Kämpfe und Geschichten von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen nicht langfristig dokumentiert und archiviert werden - eine Tatsache, der unser Film entgegenwirken möchte.

Welche Herausforderungen sind Ihnen bei den Dreharbeiten mit den aktiven Sportler*innen begegnet?

Eine unserer Protagonistinnen, die ugandische Athletin Annet Negesa, erzählt im Film die Geschichte ihres geplatzten Olympiatraums und berichtet von der körperlich übergriffigen Politik des Olympischen Komitees - aber wir haben uns bewusst dagegen entschieden, Annet Negesa in den erniedrigenden Lebensumständen zu zeigen, in welchen sie sich aktuell befindet, da sie das nicht wollte. Stattdessen hatte Annet Negesa selbst die Idee, die Geschichte ihrer Gewalterfahrung in einer abstrahierten Zeitlupeneinstellung zu erzählen. Diese Abstraktion steht einerseits symbolisch für die erzwungene Verlangsamung, die ihrem Körper zugefügt wurde, zeigt dabei aber zugleich keine expliziten Übergriffe und gibt der Gewalt somit keinen filmischen Raum. Für uns war es entscheidend, dass alle Szenen gemeinsam mit den Protagonist*innen entwickelt wurden.

Wie lief die Zusammenarbeit mit den Athlet*innen des queeren Kollektivs ab, die den gescripteten Teil des Film prägen?

Das queere Kollektiv in unserem Film besteht aus verschiedenen Performer*innen und Sportler*innen, mit denen wir gemeinsam die Ideen für die fiktionalen Szenen des Films entwickelt haben. So haben wir zum Beispiel das Archivmaterial zusammen gesichtet und uns dann gemeinsam überlegt, auf welche Art und Weise das Kollektiv die Sportler*innen aus der Geschichte würdigen und sich auch aktiv auf diese beziehen könnte. Dabei entzieht sich das Kollektiv selbst einer klaren Einordnung - weder wird ausformuliert, welchen Geschlechtsidentitäten sich die Personen des Kollektivs zuordnen, noch wird explizit erklärt, wie die Gruppe zum Laufsport steht. Auch die Grenze zwischen fiktionalen und dokumentarischen Momenten der Gruppe bleibt vage. Dieser schwebende, nicht ganz greifbare Zustand spiegelt den Wunsch nach einem Überwinden beengender Geschlechterrollen genauso wider wie das Ringen um eine filmische Form jenseits des handlungsgetriebenen Erzählkinos.

Was war Ihnen bei der Zusammenstellung der Crew des Films wichtig?

Fast alle Positionen unseres Films waren mit Frauen und queeren Personen besetzt - nicht nur aus Gründen der Repräsentation, sondern auch, weil das Einfließen der Erfahrungen aller Beteiligten und die Atmosphäre beim Dreh essentiell für unser Projekt waren. Das war ein Anliegen, das auch unserer Produktionsfirma "Schuldenberg Films" sehr am Herzen lag, da deren Team sehr viel Wert auf das Überwinden klassischer Hierarchien und gesellschaftlich dominanter Perspektiven im Filmemachen legt. So haben wir gemeinsam versucht, ein Team mit Menschen aus sehr verschiedenen Lebenskontexten zusammenzustellen und eine möglichst wohlwollende und angstfreie Arbeitsatmosphäre herzustellen.

Interview: Julia Hirsch

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