Gesellschaft
Kapitalismus: Die Ungleichheitsmaschine
Fragt man die Leute, bekommt der Kapitalismus nur wenige Likes. Trotzdem machen wir alle mit. Warum ist das so? Fragen an den Wirtschaftshistoriker Prof. Werner Plumpe.
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makro: Sie sprechen vom kalten Herz des Kapitalismus. Was meinen Sie damit?
Werner Plumpe: Das Geheimnis des Kapitalismus besteht darin, dass viele der Entscheidungen ganz kalt nach Nutzenkalkül fallen. Und allein nach Nutzenkalkül. Das mag dann aus Sicht einer ethischen Entscheidung oder sozialer Gerechtigkeit unbefriedigend sein. Wirtschaftlich gesehen setzt das jedoch eine ungeheure Dynamik frei.
Das macht den Kapitalismus in gewisser Weise aus: Er setzt diese Dynamik frei, die entsteht, wenn jeder schaut, was er denn so an Handlungsvarianten hat und sich dann an jener orientiert, von der er sich den größten Nutzen oder den geringsten Aufwand erwartet. Das wirkt kalt. Und es ist auch kalt. Das würde ich nicht bestreiten. Aber was die Dynamik angeht, ist das eigentlich unübertroffen.
makro: Aber diese Dynamik erzeugt auch viel Umweltzerstörung und Ungleichheit. Was ist daran gut?
Plumpe: Wenn es das ursächlich wäre, dann könnten wir uns natürlich sofort Fragen: Kann man das in Kauf nehmen? Ist das etwas, was wir angesichts der ökonomischen Erfolge gerechtfertigt finden? Und dann müsste man sich das im Einzelnen überlegen. Das tut man ja auch. Aber es wäre völlig illusionär zu glauben, vor dem Kapitalismus habe es keine Umweltzerstörung gegeben, keine soziale Ungerechtigkeit, keine ökologischen oder ethischen Probleme.
Da war die soziale Ungleichheit zum Teil sehr viel größer. Und glauben Sie nicht, dass die Menschen mit der Natur anders umgegangen sind in der älteren Welt. Die Übernutzung, das Einschlagen von Holz, die Ausnutzung der letzten Quadratmeter an Boden, der letzten Ressourcen - das ist eigentlich typisch für eine Welt, die sehr wenig Produktivität hat. Die müssen alles nehmen. Das Leben, das dann entsteht, ist auch nicht besonders schön. Für eine kleine Oberschicht ist das okay. Der Rest lebt immer an der Existenzgrenze.
Man kann den Kapitalismus überhaupt nur verstehen, wenn man sieht, wo er herkommt. Nämlich aus einer Welt, in der die kleinen Leute, die ohne Vermögen sind, die ohne großen Landbesitz waren, im Grunde genommen immer an der Existenzgrenze gelebt haben. Für die ist diese Art der Wirtschaft ein ungeheures Angebot.
Zur Person
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Wirtschaftshistoriker, Universität Frankfurt
makro: Das würde ich gerne aufgreifen. Sie sprechen vom Kapitalismus als eine Arme-Leute-Ökonomie. Wie meinen Sie das?
Plumpe: Wir denken immer an den Fabrikherren mit der Zigarre, dem dicken Bauch und dem großem Auto. Aber das eigentlich Neue ist, dass unter kapitalistischen Bedingungen immer mehr Menschen leben können, deren Bedürfnisse zu einem mehr oder weniger angemessenen Niveau befriedigt werden.
Ich würde das nie idyllisieren, aber der Maßstab der kapitalistischen Produktion ist die Herstellung von preiswerten Gütern und Dienstleistungen, die sich eben auch einfache Menschen leisten können.
Ulli Hoeneß hat man irgendwann gesagt, im Franchising beim Fußball verdient man das Geld nicht mit den reichen Leuten, sondern man verdient es mit den einfachen Leuten, die ihren Kindern noch das letzte Trikot des FC Bayern kaufen. Das ist in gewisser Weise das, was der Kapitalismus macht.
makro: Also, der Kapitalismus ist ein Gleichmacher?
Plumpe: Das würde ich nicht sagen. Er ist vielleicht sogar, gerade weil er sich auf diese Weise am Massenkonsum orientiert, eine Maschine, die Ungleichheit erzeugt. Aber ich werde nie um diesen Zusammenhang herumkommen: Wenn ich für viele Menschen Güter herstellen und Dienstleistungen ermöglichen will, die sie sich auch leisten können, dann muss ich für die Massenproduktion zunächst viel Kapital in die Hand nehmen.
Im Kapitalismus geht das über Privateigentum, also über soziale Ungleichheit. Insofern ist der Kapitalismus auch eine Ungleichheitsmaschine.
makro: Kapitalismus erzeugt Ungleichheit, sagen sie. Wird diese Ungleichheit dem Kapitalismus auch irgendwann zum Verhängnis?
Plumpe: Das glaube ich nicht. Ich glaube, was ihm zum Verhängnis würde, was jeder Gesellschaft zum Verhängnis wird, ist, wenn sie dauerhaft Armut produziert, akzeptiert, sich damit arrangiert, nicht dagegen vorgeht.
Wenn der Zusammenhang, so wie ich ihn geschildert habe, richtig ist, dann lebt eine kapitalistische Wirtschaft in gewisser Weise davon, dass die Menschen nachfragen, dass sie kaufen, dass Masse hergestellt und abgesetzt wird. Soziale Ungleichheit ist für den Kapitalismus eine conditio sine qua non. Das geht nicht ohne. Aber Armut auf keinen Fall. Armut ist eher etwas, das ihn infrage stellt.
makro: Sie sagen - wenn man es moralisieren will -, die gute Seite des Kapitalismus ist, dass es Konsum für alle gibt. Von diesem Konsum haben aber heutzutage viele Leute wirklich die Nase voll!
Plumpe: Ich glaube, wenn viele Leute die Nase voll haben und sagen, nein, das wollen wir nicht mehr, dann funktioniert das auch nicht mehr. Das ist ja das Schöne - kaltes Herz! -, die zentrale Steuerung durch Märkte.
Wenn sie bestimmte Güter nicht absetzen können, dann werden wir die auch nicht weiter haben. Man kann das in der Autoindustrie sehen. Es gab tolle Autos, die waren ganz klasse. Aber die haben sich am Markt nicht behauptet. Die waren dann ganz schnell weg. Borgward ist ein schönes Beispiel.
Wenn sich an den Märkten erweisen sollte, dass bestimmte Güter und Dienstleistungen gar nicht nachgefragt werden, die Menschen sie nicht haben wollen, dann entfällt jeder Anreiz sie zu machen. Man kann ja den Kapitalisten unterstellen, die wollen nur Geld verdienen. Aber die wissen alle: Wir können nur Geld verdienen, wenn wir verkaufen.
Wenn ich das alles auf Halde habe, habe ich ja nichts davon. Ich muss meinen Profit realisieren, um mit Marx zu sprechen. Und realisieren kann ich ihn nur, wenn ich das Zeug verkaufe.
makro: Marx sprach vom endlosen Kreislauf von Investitionen und Geldvermehrung. Wenn man heute sieht, wie hoch die weltweite Verschuldung ist, wie viel Geld die Notenbanken in die Märkte spülen - ist das nicht aktueller denn je?
Plumpe: Finanzblasen und Finanzkapitalismus sind ein historisches Phänomen, das nicht notwendig aus dem Kapitalismus folgt. Das hat sehr viel mit der Finanzpolitik zu tun, mit staatlicher Verschuldung. Das hat sehr viel damit zu tun, dass unsere Staaten im Westen immer mehr Geld in die Hand nehmen, weil sie Angst davor haben, täten sie es nicht, sei der Staat nicht mehr handlungsfähig und es käme zu vielen Wirtschaftskrisen. Dann würde dieses Problem auftauchen oder jenes.
Die glauben im Grunde genommen gar nicht, dass der Kapitalismus funktionieren würde, wenn die EZB, wenn der Staat nicht ganz viel Geld in die Hand nimmt, um ihm auf die Sprünge zu helfen, damit er nicht in irgendwelchen Krisen oder in anderen Dingen umkommt.
Das ist in gewisser Weise ein bisschen komisch. Denn auf der einen Seite kriegt der Kapitalismus alle möglichen Vorwürfe wie unethisches Verhalten und Spekulation. Auf der anderen Seite tun die Staaten alles, um die Börsen zu erhalten, um die Finanzkreisläufe zu erhalten, um die großen Spieler in der Finanzkrise auch alle im Spiel zu halten, und und und.
Von daher glaube ich, muss man sich das viel differenzierter anschauen. Ich denke, dass wir ein Problem haben, weil sehr, sehr viele Staaten heute sehr viel Geld in die Hand nehmen. Und zwar aus vielerlei Gründen: sozialpolitischer Art, finanzpolitischer Art, allgemeiner Art, ökologischer Art. Von daher hat sich das, was an Geld im System ist, sehr viel schneller ausgeweitet als das, was wir an produktiver Wirtschaftswelt haben.
Und dieses Geld, das da durch die Lande läuft, das wollen die Leute anlegen. Sie wollen dafür Zinsen kriegen und suchen nach irgendwelchen Anlagemöglichkeiten. Das hat dem Ganzen eine ganz eigenartige Unwucht gegeben mit der wir uns im Moment auseinandersetzen müssen. Und das ist die große Frage: ob diese Unwucht einer - wenn man so will - staatlich alimentierten Finanzblase sich auf Dauer tragen lässt. Da wäre ich so skeptisch, wie Sie das sind.
Das Interview führte Eva Schmidt.