Verlassene Straßenkreuzung in einer Favela in Sao Paulo

Gesellschaft

Südamerika: "Kläglich gescheitert"

Die Zeit von Aufschwung und Zuversicht in Südamerika ist lange vorbei. Proteste breiten sich aus. Das Wirtschaftsmagazin makro sprach mit Prof. Hans-Jürgen Burchardt über Lösungen.

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Es ist noch nicht lange her, da sah es so aus, als könnten die Menschen in Südamerika Armut, Ungleichheit und Militärdiktatur hinter sich lassen. Der Rohstoffboom brachte Einnahmen, linke Regierungen die Umverteilung.

Heute, da die Rohstoffeinnahmen nicht mehr so sprudeln, wird offenbar, dass sich an der Armut wenig geändert hat - und zwar ganz gleich, aus welchem ideologischen Lager die Regierungen seither kamen.

Die sozialen Ungleichheiten erreichen weltweite Rekordwerte und hemmen die binnenwirtschaftliche Entwicklung, sagt Hans-Jürgen Burchardt, Professor für internationale Beziehungen an der Uni Kassel. Ein Grund: "In Lateinamerika zahlen die Besserverdiener kaum Steuern." Auch das Freihandelsabkommen zwischen Europa und Südamerika gehe an den Bedürfnissen vorbei.

makro: In etlichen südamerikanischen Ländern gehen die Menschen auf die Straße. Der Protest richtet sich meist gegen konservative Regierungen und ihre Wirtschaftspolitik. Erleben wir einen neuen Linksruck?

Hans-Jürgen Burchardt: Keine Frage: Die konservativen Regierungen der Region sind mit ihren wirtschaftspolitischen Rezepten aus der Mottenkiste des Neoliberalismus kläglich gescheitert. Aber das Panorama ist insgesamt bunter. Auch gegen viele "linke" Regierungen wird protestiert. Denken Sie an Venezuela oder Bolivien.

Mit den progressiven Parteien ist es in Lateinamerika wie mit der deutschen Sozialdemokratie: Wer sich mehr dem Machterhalt als der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet fühlt und sonst durch Mut- und Ideenlosigkeit glänzt, wird keine Mehrheiten gewinnen. Erforderlich ist jetzt eine ehrliche Debatte über eigene Fehler und die Suche nach neuen Antworten. Wer da liefert, wird entscheiden, wohin die Reise geht.

Zur Person

  • Prof. Hans-Jürgen Burchardt

    Lateinamerikakenner

makro: In den Nullerjahren versprachen sprudelnde Rohstoffeinnahmen der ganzen Region eine rosige Zukunft. Das ist vorbei. Welche Perspektive gibt es heute?

Hans-Jürgen Burchardt: 15 Jahre Wirtschaftsboom und linke Regierungen haben der Region mehr soziale Entwicklung und mehr Rohstoffabhängigkeit gebracht. Jetzt muss ersteres genutzt werden, um von letzterer loszukommen. Der Hälfte aller Erwerbstätigen, die heute prekär arbeitet, muss für die Zukunft eine würdige und sozial abgesicherte Arbeit garantiert werden.

Gleichzeitig erreichen die sozialen Ungleichheiten weltweite Rekordwerte und hemmen die binnenwirtschaftliche Entwicklung. Es braucht dringend staatliche Investitionen in Soziales und Infrastruktur. Die klammen Kassen können durch eine Veränderung der Steuerpolitik gefüllt werden. Dies ist auch aus Gerechtigkeitsgründen dringend erforderlich: Denn in Lateinamerika zahlen die Besserverdiener kaum Steuern.

Hierin liegt auch der Schlüssel für eine bessere wirtschaftliche Performance: Nur mit Arbeits-, Sozial- und Steuerreformen kann die sehr niedrige Arbeitsproduktivität Lateinamerikas erhöht werden; der Königsweg, um sich von Rohstoffabhängigkeiten freizukaufen. Keine der Regierungen der Boomphase ist eines dieser Probleme effektiv angegangen.

makro: Argentinien taumelt von einer Wirtschaftskrise zur nächsten. Der Wirtschaftsliberale Mauricio Macri ist mit seiner Politik gescheitert. Kann der neue Mitte-links-Präsident Alberto Fernández die Dauerkrise beenden?

Hans-Jürgen Burchardt: Der Unternehmer Macri hat über Steuersenkungen die Rinder- und Sojabarone noch reicher gemacht, die öffentlichen Kassen ausbluten lassen und das Land international hoch verschuldet. Jetzt wird wieder versucht, den Staatshaushalt zu stabilisieren und den öffentlichen Sektor zu stärken. Eine Mammutaufgabe, die bisher mit viel gutem Willen angegangen wurde.

Ich bin wohl zu optimistisch, hoffe aber immer noch, dass der IWF erkennt, dass er heute in Lateinamerika die gleichen Maßnahmen vertritt, die die Region schon vor 30 Jahren in Armut und Krise gestürzt haben. Der IWF muss seine Politik endlich ändern und die neugewählte Regierung unterstützen.

makro: Europa und Südamerika haben sich zwar grundsätzlich auf ein Freihandelsabkommen geeinigt, doch schon zeigen sich Auflösungserscheinungen. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro liebäugelt mit einem Deal mit den USA. Hat das Mercosur-Abkommen noch eine Chance?

Hans-Jürgen Burchardt: Das EU-Abkommen nützt in Brasilien vor allem der mächtigen Agrarlobby und mit der traut sich der rechtsextreme Bolsonaro nicht anzulegen. Das ist nicht weniger problematisch: Eine ökologische Agrarwende muss kleine und mittelständische Bauern fördern, das Mercosur-Ankommen stärkt aber in beiden Regionen vor allem die Agrarindustrie. Das ist alles andere als nachhaltig. Da muss nachgebessert werden.

makro: China schließt mit immer mehr südamerikanischen Ländern sehr weitreichende, langfristige Wirtschaftsabkommen und baut so seinen Einfluss aus. Entsteht hier eine neue Form des Kolonialismus?

Hans-Jürgen Burchardt: China will mit seinem Engagement vor allem seinen Rohstoffhunger stillen. Im Unterschied zum europäischen Kolonialismus ist es aber weniger gewalttätig und hat ein geringes Interesse an innerer Einflussnahme. Die beste Antwort auf den chinesischen Einfluss sind sicherlich faire Kooperationen, die auf Respekt basieren und im hohen Maße Sozial- und Umweltstandards berücksichtigen. Hier bieten sich gerade für Europa enorme Chancen, international an Gewicht zu gewinnen.

Das Interview führte Carsten Meyer.

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