Kultur
"Kulturzeit" vom 15.05.2024: Universitäten im Schatten des Nahost-Konflikts
Die Themen der Sendung: Gilles Kepel über die Pro-Palästina-Proteste an Unis, Martin Schäuble im Gespräch über "Die Geschichte der Israelis und Palästinenser", Wiener Festwochen, Nachruf auf Alice Munro, Doku über Joanna Mallwitz.
- Produktionsland und -jahr:
- Deutschland 2024
- Datum:
- Verfügbar
- weltweit
- Verfügbar bis:
- bis 15.05.2025
Die Themen der Sendung:
Gilles Kepel über die Pro-Palästina-Konflikte an westlichen Unis
Gilles Kepel ist einer der bekanntesten Islamwissenschaftler Frankreichs, viele seiner Bücher über die Krisen im Nahen Osten und Nordafrika sind auch auf Deutsch erschienen, er unterrichtet unter anderem an der französischen Elitehochschule !Sciences Po! in Paris. Eben dort fühlt Kepel sich heute aber nicht mehr gern gesehen, er fühlt sich sogar rausgedrängt: "Weil ich nicht woke genug bin", sagt er. Sein Lehrvertrag läuft im September aus und wird nicht, wie es eigentlich üblich ist, weiter verlängert. Für ihn ist das ein beängstigendes Zeichen, dass die wissenschaftliche Analyse an den Universitäten zunehmend durch Ideologie ersetzt werde. Gilles Kepel vertritt die These, dass das moralische Fundament der Welt, nämlich das "Nie wieder" mehr und mehr ersetzt werde durch den postkolonialen Kampf. Seine Analyse: Der Postkolonialismus habe dazu geführt, dass pauschal der Süden als Inbegriff von Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Rechtschaffenheit gesehen werde, während auf dem Norden der ethische Makel der Kolonialisierung laste. Insbesondere seit dem 7. Oktober verfestige sich diese "neue Weltordnung" immer mehr: Palästina stehe im Weltbild des Postkolonialismus exemplarisch für den unterdrückten Globalen Süden, den es zu befreien gilt – Israel dagegen symbolisiere den bösen, imperialistischen und kolonialen Westen.
Die politischen Auswirkungen dieser Verschiebung seien immens: in der Region des Nahen Ostens, wo diese Ideologie den autoritären Führern nutze, aber auch in der westlichen Welt. Denn im Gegensatz zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001, wo es große Einigkeit im Kampf gegen Terrorismus gab, habe der Hamas-Angriff am 7. Oktober 2024 die Welt tief gespalten, so Gilles Kepel. Nicht zuletzt sei das anhand der Zerwürfnisse innerhalb der UN oder auch im US-Wahlkampf zu beobachten. Darauf, dass diese Verschiebung der Weltordnung mitunter an westlichen Universitäten vorangetrieben werde, blickt Kepel mit großer Sorge. Deshalb sieht er es gerade jetzt als seine Aufgabe an, Hintergründe aufzuzeigen, die erklären, welche Folgen diese Entwicklungen im Westen und der Krieg in Nahost für die gesamte Welt haben werden. Gilles Kepel stellt sich auf keine Seite, will die Freiheit haben, als Wissenschaftler mit einer 40-jährigen Expertise die Lage einzuordnen und zu analysieren. Diese Freiheit, meint er, wird ihm nun nicht mehr zugestanden, weil an den Universitäten jetzt der wissenschaftliche Diskurs, die neutrale Forschung, die Expertise keinen Platz mehr haben, da sie von den Ideologien verdrängt werden. Nicht zuletzt sieht er sich selbst von seiner Universität und den Aktivisten, denen die Uni-Leitung folgt, verdrängt.
"Die Geschichte der Israelis und Palästinenser" - Gespräch mit Autor Martin Schäuble
Martin Schäuble ist Politikwissenschaftler und Journalist. Er recherchierte vor Ort sowohl auf der palästinensischen, wie auch auf der israelischen Seite. Und er hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur beide Seiten im Blick zu halten, sondern den ewigen Konflikt in seinem neuen Buch zu erklären. In "Die Geschichte der Israelis und Palästinenser" richtet er sich bewusst auch an eine junge Leserschaft. Wir sprechen mit dem Autor.
Die Wiener Festwochen rufen die Revolution aus
Der Schweizer Milo Rau ist der neue Intendant der Wiener Festwochen und macht seinem Ruf alle Ehre. Er setzt schon vor der Eröffnung am 17. Mai markante Akzente betreffend aktueller Konflikte, Kunst und Debattenkultur: Rau will mit der Eröffnung die "Freie Republik Wien" ausrufen und mit den beteiligten Acts, zu denen unter anderen auch die Musikerin Königin der Macht, Gustav und Voodoo Jürgens sowie Mitglieder des "Rats der Republik" wie die Aktivistin Carola Rackete, Autor*in Kim de l’Horizon oder die Schriftstellerin Sibylle Berg gehören, einen Vorgeschmack auf die inhaltliche Breite des Programms geben.
Zum Tod von Alice Munro - Gespräch mit Iris Radisch
Von ihrem ersten mit Kurzgeschichten selbst verdienten Geld kaufte sich Alice Munro einst ein Schwangerschaftskleid. "Anfangs hatte ich meine Geschichten immer für kein Geld veröffentlicht, mir war gar nicht klar, dass man damit etwas verdienen kann", sagte die kanadische Autorin einmal in einem Interview. Auf bescheidene Anfänge folgte Großes: 2013 wurde Munro mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Für viele war ihre Ehrung eine Überraschung, für Fans - darunter auch Prominente wie Schriftstellerkollege Jonathan Franzen - eine überfällige Bestätigung. Am 13. Mai ist die - spätestens seit dem Nobelpreis weltweit verehrte - Autorin im Alter von 92 Jahren in der Provinz Ontario im Osten Kanadas gestorben, wie der Verlag Penguin Random House Canada mitteilte. Munro habe schon seit Längerem an Demenz gelitten. Auch aus diesem Grund hatte sich die von jeher als scheu geltende Munro - Mutter von drei Töchtern, deren zweiter Ehemann kurz vor ihrer Nobelpreis-Ehrung starb - in den vergangenen Jahren immer stärker aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Schon zur Verleihung des Nobelpreises hatte sie 2013 nicht nach Stockholm reisen können. Anstelle dessen sagte sie in einer Videobotschaft: "Ich bin so dankbar für diese wunderbare Ehre, nichts auf der Welt könnte mich so glücklich machen." Ihren Ruhestand als Autorin hatte sie schon vor dem Gewinn des Nobelpreises verkündet. "Ich werde wahrscheinlich nicht mehr schreiben", hatte sie der kanadischen Zeitung "National Post" gesagt. "Es ist nicht so, dass ich das Schreiben nicht geliebt habe, aber man kommt in eine Phase, wo man über sein Leben irgendwie anders denkt." Der Kurzgeschichtenband "Dear Life", in Deutschland 2013 unter dem Titel "Liebes Leben" erschienen, werde ihr letzter sein - und Munro hielt sich an diese Ankündigung.
Geboren wurde die Schriftstellerin 1931 als älteste von drei Geschwistern auf einer Silberfuchsfarm in dem kleinen Ort Wingham in Ontario. Schon als kleines Mädchen habe sie Geschichten erfunden, erzählte die Autorin einmal in einem Interview. "Ich hatte einen langen Schulweg und währenddessen habe ich mir Geschichten ausgedacht." Aufschreiben und Veröffentlichen aber kam viel später. Ihren ersten Erzählband (deutscher Titel: "Tanz der seligen Geister") veröffentlichte Munro 1968 mit fast 40 Jahren. Die Zeit zum Schreiben rang die damalige Hausfrau und Mutter dem Alltag ab, setzte sich während des Kochens und während die Kinder schliefen oder in der Schule waren immer wieder an ihren kleinen Sekretär. "Ich hatte schlicht zu wenig Zeit für das Schreiben, keine Zeit für große Würfe. Zur Kurzgeschichte fand ich also aus sehr praktischen Gründen." Ziel sei eigentlich immer ein Roman gewesen.
Das Genre der Kurzgeschichten meisterte Munro dafür aber so gut wie kaum jemand sonst. Sie revolutionierte es, belebte es, perfektionierte es - und bekam dann auch als erste quasi reine Kurzgeschichtenautorin den Literaturnobelpreis. Für Autorenkollege Franzen ist sie schlicht "die Beste", für ihre kanadische Kollegin und Freundin Margaret Atwood "eine Heilige der internationalen Literatur". Ein Literaturfestival in Kanada trägt ihren Namen. Ihre Geschichten, selten länger als 30 Seiten, gleichen sich alle. Und immer sind sie nahe an Munros eigenem Leben, gespeist aus den Erfahrungen mit dem strengen, aber bücherverliebten Vater und der schwierigen Beziehung zur kranken Mutter. Es geht um Frauen, Mütter und Töchter in Ontario, die erwachsen werden, sich verlieben und die schönen und tragischen Seiten des Lebens kennenlernen. Munro ist Perfektionistin. "Ich will, dass meine Geschichten die Menschen bewegen." Wir sprechen mit der Literaturkritikerin Iris Radisch über Alice Munro.
Doku "Momentum" über Dirigentin Joanna Mallwitz
Joanna Mallwitz ist seit 2023 Chefdirigentin und künstlerische Leiterin des Berliner Konzerthausorchesters, zuvor war sie Generalmusikdirektorin in Erfurt und Nürnberg, die jüngste in Europa, eine leidenschaftliche Musikerin mit einem lückenlos angefüllten Terminkalender über Jahre hinaus. Der Dokumentarfilmer Günter Atteln, selbst Musiker, hat Joanna Mallwitz drei Jahre lang immer wieder begleitet, in Nürnberg, Paris, Amsterdam, Berlin, durch wechselnde Wohnungen, mit Mann und Baby. Ihr Zuhause aber war und ist immer die Musik, der Versuch, die Werke zu erfassen und zu interpretieren. "Momentum" heißt der außergewöhnlich intime Porträt-Film über eine außergewöhnliche Musikerin, der ab dem 16. Mai im Kino startet. Er zeigt eine Dirigentin, die sich einem Star-Rummel entzieht, für die das Vertrauen und die Arbeit mit den Musikern wichtiger ist als jeder Preis, die Musik förmlich atmet - wie man in einer mehr als drei Minuten langen Szene, die nur sie allein beim Dirigieren einer großen Oper zeigt, sehen, hören, fühlen kann. Eine Umarmung.