Kultur
"Kulturzeit" vom 10.04.2025: Israel: Siedlergewalt nach dem 7. Oktober
Die Themen der Sendung: Israelische Siedler, Koalitionsverhandlungen - Gespräch mit Albrecht von Lucke, Rachel Kushners "See der Schöpfung", Film "Parthenope", Gerhard Rühm-Ausstellung.
- Produktionsland und -jahr:
-
Deutschland 2025
- Datum:
- Verfügbar
- weltweit
- Verfügbar bis:
- bis 10.07.2025
Die Themen der Sendung:
Israel: Siedlergewalt nach dem 7. Oktober
Wäre es ein unbekannter palästinensischer Kameramann gewesen und nicht Hamdan Ballal, der Co-Regisseur von "No Other Land", der in den Hügeln Hebrons verhaftet wurde, hätte der Fall niemanden interessiert. Denn seit Beginn des Gaza-Kriegs gehört Gewalt radikaler, meist junger Siedler, zum Alltag im Westjordanland. Im Schatten des Krieges sehen die Siedler das Massaker des 7. Oktobers als Freibrief für ungehemmte Gewalt gegen Palästinenser. Mehr als 5300 Fälle von Siedlergewalt hat es nach palästinensischen Angaben in den letzten zehn Jahren gegeben. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel gibt es täglich Fälle von Gewalt gegen Palästinenser.
Die Siedlerbewegung leugnet das Phänomen. "Die ganze Story um Siedlergewalt ist ein einziger großer Fake", behauptet Siedlerführer Eliram Azulay. "Wenn es mal zu Reibereien kommt, wird immer nur eine Seite gezeigt. Die jüdischen Täter terrorisieren die armen Araber. Niemand will das gesamte Bild sehen." Den israelischen Historiker Moshe Zimmermann verwundert die Taktik der Verleugnung überhaupt nicht. "Es sind die anderen, die anfangen, die anderen, die Gewalt anwenden, die anderen, die sich illegitim dort aufhalten", sagt er. "Das ist die Taktik, die man benutzt. Die ist selbstverständlich nicht sehr überzeugend, wenn man die Sache etwas neutraler betrachtet. Die Gewalt kommt einzig und allein von den Siedlern."
Und diese Gewalt wird dokumentiert, zum Beispiel von Menschenrechtsorganisationen wie B'tselem. Sie sammelt seit Jahrzehnten Zeugenaussagen und Videoaufnahmen von Überschreitungen, mit denen sie auch vor Gericht gehen. Und selbst unter religiösen Juden finden sich vereinzelte Aktivisten, die sich den Schutz der Palästinenser vor Siedlergewalt aufs Banner geschrieben haben. Einer von ihnen ist Rabbiner Arik Asherman. Wo immer Palästinenser angegriffen werden, sind er und seine Organisation "Gerechte Thora" vor Ort. Die Siedler, sagt er, vergöttern das Land. Aber eigentlich gehe es um die Menschen, "denn in der Bibel ist einzig der Mensch in Gottes Antlitz geschaffen. Daher ist es ein Götzendienst, das Land Israel, heilig wie es sein mag, über Menschen zu stellen - seien es Juden oder Nichtjuden". Für die Palästinenser ist Asherman ein Robin Hood. Für die Siedler ist er ein Volksverräter.
Rechtliche Konsequenzen haben die Gewalttaten so gut wie nie. Den Schriftseller Assaf Gavron, der bereits vor zwölf Jahren seinen satirischen Siedlerroman "Auf fremdem Land" veröffentlichte, verwundert das nicht. "Schon damals nannten wir die West Bank, das Westjordanland, den Wilden Westen, die Wilde West Bank", sagt er. "Das ist genau das Feeling, das an diesem Ort vorherrscht. Der Wilde Westen in all seiner Symbolik und Bilderwelt der Gesetzlosigkeit. Leute kommen neu in ein Gebiet, übernehmen das Ruder und kümmern sich einen Dreck um die Bewohner, die dort waren. Und heute sind die, die damals als die Radikalsten galten, der Mainstream. Sie ziehen los, verüben Gewaltakte, stehlen immer mehr Land, und all das in einem gesetzlosen Raum."
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Rachel Kushners Roman "See der Schöpfung"
Ihre Romane sind Ereignisse. Rachel Kushner ist eine der aufregendsten Schriftstellerinnen Amerikas. Und endlich erscheint ihr neues Buch "See der Schöpfung", das für den Booker Prize und den National Book Award 2024 nominiert war, auch in Deutschland. Diesmal hat Kushner etwas gewagt, womit man bei ihr nicht unbedingt gerechnet hätte: Sie hat einen Spionageroman geschrieben. Einen echten Pageturner, der eine ganz eigene Spannung aufbaut, und gleichzeitig nur so strotzt vor philosophischen und aktuellen Bezügen. Die Hauptfigur: Eine junge, skrupellose und überdurchschnittlich attraktive Ex-CIA-Agentin namens Sadie Smith (ein Deckname natürlich), die aus Kalifornien aufbricht, um einen Auftrag zu erfüllen, der sich anders entwickeln wird als geplant. Sie soll irgendwo in der südwestfranzösischen Provinz eine Kommune von Klima-Aktivisten infiltrieren, deren intellektueller Vordenker ein Alt-68er ist, der tief unter der Erdoberfläche in einer Höhle lebt. Zum Auftrag gehört auch, der Gruppe umstürzlerische, staatsgefährdende Aktionen nachzuweisen, um sie dann möglichst lange hinter Gitter zu bringen – zur Not darf all das auch fingiert sein. Hauptsache: Weg mit den Revoluzzern. Die Drahtzieher dieses heimtückischen Plans sind namenlose Schattengestalten aus Politik und Wirtschaft, die zugunsten ihrer eigenen Interessen keinerlei Probleme damit haben, die Welt brennen zu sehen – und sogar dazu bereit sind, über Leichen zu gehen. Doch wer Kushner kennt, weiß: Das ist des wilden Ritts noch nicht genug. In den Spionage-Plot eingeflochten, entwickelt sie nichts weniger als eine alternative Erzählung der Zivilisationsgeschichte. Es geht um existenzielle Fragen: um das Verhältnis des Menschen zur Natur, den Wert der Kunst, um aktuelle Verteilungskämpfe, und darum, was es heißt, heute Mensch zu sein. Wie schon in ihrem gefeierten Roman "Flammenwerfer" widmet sich Rachel Kushner in "See der Schöpfung" einmal mehr der Geschichte europäischer aktivistischer Bewegungen und Gegenkultur. Voller Witz und feiner Beobachtungsgabe lässt Kushner charismatische Figuren aufeinandertreffen, die alle eines eint: Sie wollen ein Leben abseits der Norm leben, unangepasst, flirrend, frei.
Film "Parthenope"
Die Geschichte einer ehrgeizigen, klugen und umwerfend attraktiven Neapolitanerin, die in den 1970er-Jahren nach dem Sinn des Lebens und einem beruflichen Ziel sucht und dabei auch mit Enttäuschungen und persönlichen Schicksalsschlägen konfrontiert wird. Mit einer Mischung aus mythisch überhöhter Coming-of-Age-Geschichte und episodischem Stadtporträt schafft der Film eine Welt aus anmutiger Schönheit, melancholischer Dekadenz und magischem Realismus. Regisseur Paolo Sorrentino ("La grade Belezza") entwirft gemeinsam mit seiner Kamerafrau Daria d’Antonio filmische Tableaus, deren Sog man sich kaum entziehen kann. Parthenope wird in Neapel als Stadtgöttin verehrt. Und so feiert der Film "Parthenope" nicht nur die Schönheit seiner Hauptdarstellerin Celeste della Porta, sondern ist zugleich eine glühende Liebeserklärung an Sorrentinos Heimat Neapel.
Gerhard Rühm zum 95. Geburtstag
Bei dem jüngsten Kunstprojekt von Gerhard Rühm vor dem Volkstheater in Wien wurde die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" Wort für Wort verlesen. Das ist nicht ohne Brisanz in einem "restaurativen Zeitalter", wie Gerhard Rühm unsere Gegenwart beschreibt. Seine Arbeit hatte immer auch eine politische Dimension. 2024 ist Gerhard Rühm wieder zurück nach Wien gezogen, in die Wohnung, in der er aufgewachsen ist, in einem künstlerischen Haushalt. Sowohl den Austrofaschismus als auch die Nazi-Diktatur hat er am eigenen Leib erlebt. Musiker wollte er eigentlich werden, Klavier zu lernen hat er früh begonnen, sein Vater war bei den Wiener Philharmonikern. Der Sohn interessierte sich für die Musik von Schönberg, Webern, Bartok, überhaupt für alles von den Nazis Verbotene und Verschüttete - das einte die Mitglieder der "Wiener Gruppe", die er mitbegründet hat. Diese frühe Ausrichtung Gerhard Rühms sorgte für Konflikte zuhause.
Wien wieder zum Lebensmittelpunkt zu machen, entschied Gerhard Rühm nach dem Tod seiner geliebten Lebens- und Kunstgefährtin Monika Lichtenfeld Mitte 2023. Mit ihr gemeinsam hatte er viele Jahre in Köln gelebt und gewirkt. Nach Deutschland wanderte er Anfang der 1960er Jahre aus. Österreich war ihm damals zu eng, zu reaktionär. Er gehörte zu jenen, die von den Förderstellen im Land als zu verhindernde Provokateure wahrgenommen wurden. Schwarzer Humor, Innovation, Reduktion waren ihm von Beginn an wesentliche Triebfedern. All das findet sich auch in seinem neuen Buch "Zugvögel", eine Gemeinschaftsarbeit mit der Filmemacherin Martina Kudlácek. "Ich verlange von Kunst, dass es sich nicht wiederholt, dass es keine epigonale Repetition ist - dass versucht wird, Neues zu finden, darum geht es", sagt Rühm. Dieses Credo veranschaulicht auch die Ausstellung in der "Neuen Galerie Graz". Nicht zufällig trägt sie den Titel "noch immer jetzt". Das Wort "jetzt" spielt in Gerhard Rühms Werk eine zentrale Rolle. In der Schau in Graz lässt man alle wesentlichen Rühmschen Werkphasen der letzten sieben Jahrzehnte Revue passieren - und macht deutlich: Gerhard Rühms Werk ist einzigartig in Hinblick auf die eigensinnige Synthese von Literatur, Musik und bildender Kunst. Und: dieses Werk: es altert nicht, wie Gerhard Rühm selbst.